Kerstin Kaiser, Wulf Gallert, Stefan Liebich
Fraktionsvorsitzende der Linkspartei.PDS-Fraktionen im Landtag
von Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Abgeordnetenhaus von Berlin
Linkspartei:
Gewählt, um zu verändern.
Diskussionspapier zum Bundesparteitag der Linkspartei.PDS, Dezember
2005
Im neuen Bundestag ist die demokratische Linke so stark vertreten
wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
8,7 Prozent für die Linkspartei – das zeigt, was
an gesellschaftlicher Kraft zu aktivieren ist, wenn die demokratische
Linke auf ihre Gemeinsamkeiten setzt: Soziale Gerechtigkeit,
Frieden, Demokratie. Die sich formierende neue Linkspartei
ist dieser gesellschaftlichen Kraft gegenüber verpflichtet.
Ihr Vertrauen gilt es zu rechtfertigen. Nur dann kann, nur
dann wird die noch im Entstehen begriffene neue Partei sich
dauerhaft im Parteienspektrum verankern und tatsächlich
wirksam für ihre Ziele eintreten können. Das wollen
wir erreichen.
Die politische Arbeit der nächsten Monate und Jahre verlangt
jedoch mehr von uns als die bloße Fortführung des
vor den Bundestagswahlen skizzierten Weges. Die vorgezogenen
Bundestagswahlen haben unsere Planungen dafür überholt,
uns auf der Grundlage des Potsdamer Bundesparteitags-Beschlusses
für die Wahlen 2006 und die politischen Kämpfe in der
zweiten Hälfte des Jahrzehnts inhaltlich fit zu machen.
Das hatte sein Gutes – doch das Gute darf uns nicht dazu
verleiten, das noch Notwendige liegen zu lassen. Das Wahlprogramm
enthält manche Forderungen, zu denen der Diskussionsprozess
noch weiter gehen muss – und es fielen auch Forderungen
heraus, weil die Diskussion noch nicht abgeschlossen war. Innerhalb
der PDS, aber auch mit unseren Partnerinnen und Partnern von
der „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“.
Seitens der Fraktionsvorsitzendenkonferenz wurde die Arbeit der
AG Konzeptvergleich unterbrochen, die die Stimmigkeit der von
den Landtagsfraktionen und den Bundestags-Abgeordneten vertretenen
Forderungen herstellen sollte. Das begrenzt die Wirksamkeit unserer
Referenzprojekte und die Überzeugungskraft unseres Gesamtkonzeptes.
Damit können wir uns nicht abfinden - nicht im Interesse
der Partei und schon gar nicht im Interesse der Menschen, für
die wir Politik betreiben. Immerhin geht es um wichtige Fragen
wie die Arbeitsmarktpolitik unter den Bedingungen von Hartz IV,
wie die Gewährleistung von Mindestlöhnen, wie die soziale
Grundsicherung.
Die politische Arbeit der nächsten Monate und Jahre verlangt
auch mehr von uns als die allein organisatorische und juristische
Bewältigung des Parteibildungsprozesses mit der WASG. Sowohl
dort, wo die Kooperation mit der WASG erfolgreich verläuft,
als auch dort, wo die Beziehungen eher konfliktgeladen sind,
wird gleichermaßen deutlich: Vor allem geht es um den Platz
und die Verantwortung der entstehenden neuen Partei in der Gesellschaft,
im politischen Wettbewerb und vor den Wählerinnen und Wählern.
Die Dimension des gesellschaftlichen Auftrags an die Linkspartei
ist aus dem Wahlkampf und dem Wahlergebnis ablesbar. Bestimmendes
Thema war die Auseinandersetzung um das soziale Maß notwendiger
Reformen in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft in Deutschland;
die Wählerinnen und Wähler ließen sich bei ihrer
Entscheidung vor allem davon leiten, ob sie für die künftige
Politik die soziale Gerechtigkeit oder die Belange der Wirtschaft
für vorrangig hielten. Dabei erstarkten auf beiden Seiten
nicht die großen bundesweiten Volksparteien, sondern auf
beiden Seiten jeweils die kleineren Parteien, die entsprechend
die konsequenteste Position einnahmen – die FDP auf der
marktradikalen Seite, die Linkspartei.PDS auf der Seite, die
den Anspruch der sozialen Gerechtigkeit vertrat.
Diese Richtung politisch zu wahren und die Verhältnisse
verändernd zur Geltung zu bringen – das ist die entscheidende
Aufgabe der entstehenden neuen Linkspartei.
Dabei müssen wir zugleich berücksichtigen: Für
diese Richtung steht sie in den Augen der Gesellschaft nicht
allein. 55 Prozent der Wählerinnen und Wähler vom 18.
September 2005 sprachen sich dafür aus, dass die künftige
Bundesregierung der Solidarität Priorität einräumt.
Zudem stand einer gesellschaftlichen Mehrheit für ein Primat
von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität eine nominelle
parlamentarische Mehrheit für jene Parteien gegenüber,
die sich im Wahlkampf vorrangig auf soziale Gerechtigkeit und
Solidarität bezogen hatten.
Diese Mehrheit freilich war für eine Regierungsbildung politisch
nicht handlungsfähig; mit der Bildung der Großen Koalition
wird die Spaltung erneuert. Doch insbesondere zwischen den Wählerinnen
und Wählern von SPD und Linkspartei.PDS ist die Fremdheit
bei weitem nicht so groß, wie man vermuten mag. Für
beide Gruppen hat soziale Gerechtigkeit klar Vorrang und Arbeitsmarktpolitik
ein hohes Gewicht. Beide Parteien sind überdurchschnittlich
stark bei den Arbeiterinnen und Arbeitern sowie den Gewerkschaftsmitgliedern;
zugleich hat die Linkspartei ihre Hochburgen dort, wo auch die
SPD stark ist. Und klar ist auch: Koalitionen sind nichts auf
Ewigkeit, Parteien entwickeln sich auch in Regierungsbündnissen
weiter und gesellschaftliche Erwartungen sind eine hartnäckige
Angelegenheit. Schon vor der Wahl hatte der IG-Metall-Vorsitzende
Jürgen Peters nicht von ungefähr die damalige SPD-Führung
scharf dafür kritisiert, dass sie jede Zusammenarbeit mit
der Linkspartei ausschloss, und angezweifelt, dass diese Linie
von Dauer sein könnte. Und wir nehmen es ernst, wenn auch
in unseren Reihen mit Blick auf die nicht handlungs-, also: nicht
regierungsfähige Mehrheit für soziale Gerechtigkeit
gesagt wird, 2009 könne alles anders aussehen. Doch wenn
das so ist, dürfen wir nicht nur abwarten, was sich bei
anderen Parteien tut – und das das Resultat über uns
ergehen lassen.
Unsere Überzeugung ist: Die gesellschaftliche Mehrheit in
Ost und West, die eine auf soziale Gerechtigkeit orientierte
und auf Solidarität setzende Politik wünscht, hat ein
Recht auf eine entsprechende Regierungspolitik. Wenn nicht jetzt,
dann bei der nächst sich bietenden Gelegenheit. Darauf
muss die Linkspartei.PDS bewusst und engagiert hin arbeiten.
Das ist ihre Verantwortung. Veränderung beginnt mit Opposition,
ja, das gilt. Unbedingt. Immer. Aber sie hört damit ja nicht
auf. Die Linkspartei ist für eine bestimmte Richtung gewählt
worden – das verlangt mehr, als nur gegen eine bestehende
Regierung aufzutreten und zu kämpfen. Für eine bestimmte
Richtung gewählt zu werden, beinhaltet im Kern den Auftrag,
eine solche Politik auch in parlamentarischen und exekutiven
Mehrheiten praktisch umzusetzen, den Widerspruch zwischen gesellschaftlichen
und parlamentarischen Mehrheiten zu überwinden.
Im Land Berlin haben wir erlebt, dass das möglich ist – und
wie schnell es gerade nach Phasen langer Fehlentwicklung dazu
kommen kann. Und es hat sich gelohnt. Erstmals seit vielen Jahren
wird es 2007 kein Primärdefizit des Landeshaushalts mehr
geben. Damit wurde die Voraussetzung geschaffen, dass die Haushaltsnotlage
anerkannt wird und Bund und Länder helfen können, die
Schulden der Großen Koalition abzubauen und damit Spielräume
für soziale Politik zu schaffen, statt die Steuern der
Berliner den Banken zu überweisen. Erstmals wurde aber auch
ein Stoppzeichen gegen blinde Privatisierungspolitik aufgestellt
und statt-dessen dafür gesorgt, dass mit einer rot-roten
Regierung gegen alle anderen Parteien der Krankenhauskonzern
Vivantes, das Nahverkehrsunternehmen BVG, die Berliner Stadtreinigung
BSR und die öffentlichen Kindertagesstätten wettbewerbsfähig
statt verkauft wurden. Zudem wurde ein Kurswechsel in Sachen
Bürgerrechte und Demokratie vollzogen: Volksentscheide
und Absenkung des Wahlalters in den Bezirken, Bargeld und Wohnungen
für Flüchtlinge, statt Chipkarten und Wohnheime. Stärkung
des Bürgerprotests statt Versammlungsverboten. Und bei
allem war schließlich soziale Gerechtigkeit Richtschnur
des Handelns, was in Zeiten knapper Kassen schwierig ist. Und
doch: ALG-II-Empfänger nutzen zum halben Preis die öffentlichen
Verkehrsmittel und genießen mit 3-Euro-Tickets Kunst und
Kultur. Massenumzüge infolge der Hartz-IV Gesetzgebung
(der Berlin im Bundesrat wegen der Linkspartei nicht zugestimmt
hat) bleiben aus, weil hier eine Linkspartei-Senatorin die Ausführungsvorschriften
erarbeitet. Und im letzten Jahr vor der Schule müssen Berliner
Eltern den Kitaplatz nicht mehr bezahlen. Um das und anderes,
was wir als Opposition gefordert haben, auch durchzusetzen brauchte
es eine Regierungsmehrheit.
Zu oft wird eine offensive Haltung, die eigene politische Vorstellungen über
Regierungshandeln auch praktisch umsetzen will, unter Linken
als das Streben einzelner Politikerinnen und Politiker nach Regierungsämtern
diskreditiert. Das wird der politischen Herausforderung nicht
einmal im Ansatz gerecht. In Sachsen-Anhalt haben wir in den
90er Jahren zudem die Erfahrung gemacht, wie es ist, wenn man
immer und überall Mitverantwortung für eine Landesregierung
trägt - nur nicht am Kabinettstisch mit entscheidet und
in keinem Ressort eigene Linien umsetzen kann. Für das,
was jetzt anzupacken ist, reicht das nicht mehr aus. Das Beispiel
Brandenburg zeigt uns: PDS-Wahlerfolge im Land allein bringen
noch keinen Politikwechsel in Richtung sozialer Gerechtigkeit.
Dieser wird nur möglich, wenn es auch einen Regierungswechsel
gibt. In diesem Sinne sieht sich die Landtagsfraktion dort in
Verantwortung und erarbeitet in den nächsten anderthalb
Jahren ein Leitbild für eine soziale, zukunftsfähige
Region Berlin-Brandenburg – ein Leitbild ähnlich denen,
wie sie z. B. bereits von den Genossinnen und Genossen in Sachsen
und Sachsen-Anhalt vorgestellt worden sind. Die Studie „Sachsen-Anhalt
2020“ nimmt auch die Erfahrungen der Magdeburger Tolerierungszeit
auf und benennt Schlussfolgerungen für die Zukunft. Die
wichtigste: Eine lebenswerte Zukunft für alle wird es nur
geben, wenn ein gänzlich neuer Entwicklungspfad eingeschlagen
wird – ein Entwicklungspfad, der durch Innovation – im
wissenschaftlich-technischen wie vor allem umfassenderen gesellschaftspolitischen
Sinne – geprägt ist und die sich so auch als soziale
Gestaltung erweist. Man kann seine Grundrichtung bestimmen – ihn
aber nicht theoretisch bis ins Detail vorzeichnen; er öffnet
sich im praktischen Handeln. Deswegen setzen wir nicht mehr allein
auf staatliche Verantwortung, sondern auf einen kooperativen
Stil, auf Akteursbündnissen aus Politik, Bürgergesellschaft,
Wirtschaft, Wissenschaft.
Regieren muss man vorbereiten: politisch-inhaltlich und nicht
minder politisch-mental – in den eigenen Reihen wie in
der Gesellschaft insgesamt. Regieren muss man wollen. Diese Erfahrung
haben wir in unterschiedlichen Konstellationen in unseren Bundesländern
gemacht. Auch die, dass eine konsequente, konkrete Vorbereitung
auf Regierungstätigkeit genau jene Kriterien und Maßstäbe
zu Tage treten lässt, die zu einer sachlich begründeten,
konsequenten und aktiv treibenden Oppositionsarbeit im Parlament
führen können – wie nach dem Landtagswahlkampf
2004 in Brandenburg. Damals haben wir auch deutlich gespürt,
dass man sich im wirklichen Leben nicht nur für eine Regierungsbeteiligung,
sondern auch für das Verbleiben und Agieren in der Opposition
rechtfertigen muss. Regieren oder Nicht-Regieren ist keine Frage „an
sich“, keine Frage der richtigen oder falschen Überzeugung,
sondern Konsequenz sachlich begründeter Entscheidungs-Optionen,
zu denen man sich mit politischen Partnern einigen kann oder
auch nicht.
Der Potsdamer Bundesparteitag der PDS hat im Herbst 2004 das "strategische
Dreieck" zwischen Protest, Gestaltungsanspruch und über
die derzeitigen Verhältnisse hinaus weisenden demokratisch-sozialistischen
Alternativen als den Rahmen, den politischen Raum beschrieben,
in dem sich die Partei erfolgreich bewegen kann. Zu oft noch
aber wird dieses „strategische Dreieck“ nur als
Rechtfertigung des Beharrens auf einer seiner Ecken missdeutet,
Regierungstätigkeit als Um- oder gar Abweg auf dem vermeintlich
geraden Weg zwischen Protest und grundsätzlichen gesellschaftlichen
Alternativen in Frage gestellt, das Ganze nach Belieben im politischen
Raum justiert. Doch dieses „strategische Dreieck“ war
nie als ein Raum gedacht, in den wir uns vor den Herausforderungen
des gesellschaftlichen und politischen Lebens zurück ziehen
und in dem wir uns vor den Anhängerinnen und Anhängern
konkurrierender Parteien abschotten. Es war nach unserem Verständnis
auch nie diagonal zu den politischen Ebenen gemeint: unten, in
Kommunen und bestenfalls den Ländern Mitgestaltung, und
oben, auf Bundesebene, nur der Protest. Und die übergreifenden
Alternativen entsorgt in eine unpolitische Nische "Programmdebatte".
Auf Inhalt und Richtung der politisch-programmatischen Debatte
aber kommt es jetzt gerade an – auch deswegen, weil jetzt
unter den Parteien diesseits von Union und FDP eine neue Phase
des politischen Wettbewerbs begonnen hat. Schneller als dies
zunächst zu erwarten war, hat in der SPD die personelle
und konzeptionelle Neuaufstellung begonnen. Mit Matthias Platzeck
und den mit ihm erstarkenden „Netzwerkern“ übernimmt
nicht nur eine neue politische Generation die Verantwortung
für die sozialdemokratische Partei, sondern auch eine Denkrichtung,
die sich mit einer neuen Synthese von pragmatischer Politik und
strategischen Linien dem verkrusteten Links-Rechts-Schema entziehen
und gerade auf diese Weise nicht nur die Zukunft der Linken für
sich vereinnahmen, sondern auch gesellschaftliche Hegemonie erringen
will. Die in den 90er Jahren und vor allem nach der Regierungsübernahme
im Bund ausgebliebene programmatische Aufarbeitung Politik bestimmender
neuer Herausforderungen gerät jetzt auf die Agenda.
Die PDS hat 2004 auf dem Potsdamer Bundesparteitag nicht nur
das „strategische Dreieck“ und die Orientierung auf
konkrete Referenzprojekte für eine sozial gerechte Bewältigung
der aktuellen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen
und auch kulturellen Herausforderungen beschlossen, sondern
zugleich erkannt: „Wo Grundsätzliches in Bewegung
gerät, müssen zeitgemäße Antworten gefunden
werden.“ Ohne diese Antworten werden wir nicht bestehen
können – Antworten auf die Globalisierung und die
weltweiten Strukturveränderungen in der Wirtschaft, auf
die Produktivkraftentwicklung und die moderne Wissensgesellschaft,
auf die Veränderungen in der Arbeitswelt und Lebensweise
der Menschen, auf die Krise der sozialen Sicherungssysteme und
der öffentlichen Finanzen, den Klimawandel und die anhaltende
Gefährdung der natürlichen Umwelt, das Scheitern des "Aufbau-Ost"-Modells
der 90er Jahre, den weltweiten Terrorismus und den Versuch, eine
neue imperialistische Machtpolitik durchzusetzen.
Viele dieser Fragen stellt jetzt auch die SPD. Wenn wir angesichts
dessen jetzt nicht kraftvoll an unseren eigenen Vorhaben arbeiten,
dann kann es passieren, dass wir 2004 auf unserem Potsdamer Bundesparteitag
die richtigen Fragen gestellt haben, dass aber nunmehr die Potsdamer
Mannschaft des neuen SPD-Vorsitzenden den Menschen im Land den
Eindruck vermittelt, sie – und nicht wir – hätten
die richtigen und einzigen Antworten.
Dann aber wäre die Chance für einen Politikwechsel
in Deutschland auf sehr lange Zeit begraben.
Die neue Runde des politischen Wettbewerbs ist eröffnet.
Wir müssen stärker werden - wir wollen und können
gewinnen. Wir sind gewählt, um zu verändern.
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